Die neue Balance
Soviel wie nötig und so wenig wie möglich-Die neue Balance
„Reiten bedeutet eine neue Balance zwischen Pferd und Reiter zu erzeugen, zum Zwecke der gemeinsamen schadlosen Fortbewegung.“
Dies ist eine schlichte idealistische Weise sich mit einem Massenphänomen zu beschäftigen, welches heutzutage von einer wuchernden Industrie vor sich hergetrieben wird und vor hysterischen Auswüchsen geradezu strotzt.
Immer mehr Menschen neigen dazu nicht nur physische Nahrung, sondern auch lebendige, kommunikative Prozesse auf das Niveau von Fertiggerichten mit Geschmacksgarantie reduzieren zu wollen. So entsteht eine lebensfeindliche Unkultur der profittauglichen Quantitäten.
Ganz anders das Pferd!! Es ist selbst in Situationen, in denen es zumeist durch falsche Haltung oder Fütterung geschwächt ist, immer wach und bereit mit einer eindeutigen Reaktion exakt das Entgegengebrachte zu reflektieren. Es spiegelt alle Einflüsse und speziell unser Verhalten aufs feinste. Diese Qualität ist Verhängnis fürs Pferd und Glück für uns. Könnten wir doch als Gegenleistung für Geld, Zeit und Mühe unendlich wertvolle Erkenntnisse über uns selbst erlangen.
„Wie der Herr so’s Gescherr !“Die tragikomische Tragweite dieser uralten Weisheit bleibt dem mit Beobachtergabe gesegnetem kaum verborgen.
Wenn wir uns ein gesundes, gutmütiges lern- und arbeitswilliges Partner-Pferd wünschen, sollten wir auch dem Pferd seinen Wunsch erfüllen und kompetent, einfühlsam seinen Entwicklungstand und Belastbarkeit richtig einschätzen. Das Pferd ist uns vollständig ausgeliefert. Wir sind als Besitzer komplett verantwortlich für alles. Wir suchen den muffigen Stall aus, in dem es chronische Bronchitis kriegt, nicht derjenige, den wir für die Bereitstellung bezahlen. Wir sind diejenigen, die das viel zu junge Pferd in einer ungünstigen Wachstumsphase zum Bereiter bringen und erwarten, dass es in acht Wochen dieses oder jenes können muss - weil wir ja schon für das nächste Turnier oder den Wanderritt planen. In Jahrmillionen wurde das Pferd von der Evolution mit einer enormen Fähigkeit ausgestattet. Es kann extreme Mangelzustände meisterhaft kompensieren. „So viel wie nötig und so wenig wie möglich.‘ Diese Naturformel aus der Sicht des Pferdes angewandt, bringt die effektivsten Ergebnisse. Wir hingegen vermenschlichen das Pferd und überhäufen es derart mit aus unserer Sicht vermeintlichen Wohltaten, wie warme Ställe, Decken gegen Regen, Wind und Kälte, Sonnenschutz und viel zu üppigem Futter. Dieses seinem Wesen nicht zuträgliche „Zuviel“ macht es krank. Und Gewehr bei Fuss steht schon die Gesundheitsindustrie bereit um diesen Zustand mit „noch mehr“ dauerhaft profitabel zu manifestieren.
Wer auch immer hier wen über den Tisch zieht und sich eine goldene Nase verdient. Sich die Freiheit nehmen, ein Pferd zu halten und zu reiten bedeutet, dass wir die volle Verantwortung übernehmen.
Ein Pferd gesund robust und für reiterliche Einwirkung genügend ausbalanciert und belastbar zur Spezialisierung zu geben, obliegt unserer Mindestanforderung. Aller Schaden, der entsteht, weil dem nicht so ist, haben wir in erster Linie selbst zu verantworten .Je mehr Kraft und Energie wir aufwenden um Genauigkeit und Kompetenz zu entwickeln, umso klarer und eher sind wir in der Lage die Reize, denen wir das uns vollständig ausgelieferte Pferd aussetzen, zu steuern und zu selektieren. Im Reitsport gilt in hohem Maße die Regel, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt. Die Nachfrage entsteht individuell im Einzelnen. In mir und in dir .Ein Objekt, welches in gleichem Mass Begehrlichkeit wie Hysterie hervorruft ist der „passende“ Sattel. Wie immer beginnt der Krieg gewollt oder ungewollt mit einem Missverständnis. Der Sattel vermittelt zwischen zwei dynamischen Systemen und kann deshalb prinzipiell gar nicht passen. Zu einer Autofelge gibt es einen passenden Reifen, weil diese, einmal miteinander verbunden, eine statische Gesamtheit bilden. Der Sattel braucht zwar eine sinnvolle Passform, jedoch ist diese der Funktionalität untergeordnet. Eine objektiv und dauerhaft richtige Passform kann es nicht geben, da sich diese aus den jeweiligen individuellen Einwirkungsmustern ergeben. Diese Muster andern sich ständig. Von daher ist das Können oder das Unvermögen des Reiters hauptursächlich fürs Gelingen oder Scheitern der Reitlektionen. Ein guter Reiter hilft dem Pferd durch geschickte Gewichtsverlagerung bei der Balancierung und ermöglicht so die gleichzeitige Kompensation eines Sattels mit ungünstiger Passform. Die Richtigkeit der Massnahmen ergibt sich eher gefühlsmässig und intuitiv als theoretisch. Das Konzept des Reitens wird im Kopf entwickelt. Die Ausführung hat mit dem Hintern zu erfolgen. Der schlechte Reiter ist zumeist schon mit seinem eigenen Gleichgewicht überfordert und flüchtet sich gerne in eine Feindbildstrategie.“Der Sattel ist schuld. Der passt nicht.“ Anstatt zu balancieren und zu kompensieren wird polarisiert. Ins gleiche Horn bläst die Forderung nach einem symmetrischen Sattel. Jedes Pferd ist von Natur aus schief und asymmetrisch und wird es auch bei aller Anstrengung bleiben. Als lebendiges Wesen ist es einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen. Dazu gehören Umwelteinflüsse, Haltung, Fütterung (selbst bei gleichbleibender Fütterung ändert sich die Verwertung derselben), Gesundheitszustand, reiterliche Belastung und Wachstum.
Ein Sattel lässt sich aufgrund der benötigten, verformbaren Materialien, die größtenteils in Handarbeit bearbeitet werden, auch beim besten Willen nicht symmetrisch herstellen. Bei aller Sorgfalt wird er sich sowieso der Asymmetrie von Pferd und Reiter anpassen, was kein Mangel ist, sondern notwendiger Bestandteil seiner Funktionalität.
Es wäre besser und der Sachlage angemessener, wenn sich der Kunde von der Idee eines „passenden symmetrischen " Sattels, den der Händler oder Sattler gar nicht liefern kann, verabschiedet und sich stattdessen eine Sattelkultur im Sinne eines „funktionierenden" Sattels entwickeln würde.
Dies erfordert von den Beteiligten natürlich einen umfassenderen Einblick und eine höher entwickelte Nach-, Rück-, und Vorsicht. Die Folge wäre, dass Kunden, die bessere Reiter sind, die Funktionalität von Sätteln besser beurteilen könnten. Sie könnten damit die Entwicklung besserer Produkte provozieren und initiieren, was nicht zuletzt die Pferde mit der unbestechlichen Genauigkeit ihrer Reaktionen unterschreiben würden.
Man hört immer wieder von schiefen, unpassenden Sätteln, denen geradezu diabolische Eigenschaften zugeschrieben werden und dass sie die Pferde kaputt machen würden. Ich habe einmal den Versuch unternommen und Sättel sogar absichtlich verkehrt herum auf das Pferd gelegt: nichts geschah. Alle, selbst die, die am gemeinsten aussahen verharrten in untätiger Unschuldigkeit und konnten dem Rosse kaum ein Härchen krümmen. Würde ich mich allerdings drauf setzen und losreiten und beharrlich über einen längeren Zeitraum die Reaktion meines Pferdes ignorieren, so könnte man sich durchaus darauf einigen, diesen Vorgang als teuflische Folter zu bezeichnen.
In sämtlichen Fällen, in denen Kunden an mich herantraten und forderten einen Sattel gerade zu machen, der wegen seiner Schiefe dem Pferde angeblich Schaden zufüge, musste ich feststellen, dass dieser zwar tatsächlich nicht symmetrisch war, aber lediglich zu wenig. Oder die falsche Asymmetrie besaß, um auf einem vielfach schieferen Pferd mit einem mindestens genauso schiefen Reiter seine Aufgabe als Mittler oder Schlichter angemessen zu erfüllen. Wobei die bewusste asymmetrische Bearbeitung des Sattels einerseits erforderlich ist und andererseits auch ihre Grenzen hat. Der Zweck, den in der Hüfte einknickenden und gleichzeitig nach vorne verschobenen Reiter gerader zu setzen, und das auf einem Pferd, welches durch dauerhafte einseitige Bewegungsmuster eine körperlich manifestierte Schiefe ausgeprägt hat, ist lediglich Schönfärberei. Der ganze Schlamassel gehört von unten her mit kompetenter therapeutischer Hilfe komplett aufgelöst. Das was dann oft verlangt wird, kann ein Sattel oder ein Sattler selbst für alles Geld der Welt nicht leisten. Wie immer, so gab es Kunden, die offen und lernwillig waren und das Erklärte und die dahinterstehende Erfahrung als weiterführende Erkenntnisse annahmen und in positive Prozesse umzusetzen imstande waren. Und es gab diejenigen Unbelehrbaren, die in ihrer statischen Vereinsamung es vorziehen mit allem denk- und undenkbarem Dreck nach anderen zu werfen, nur um den eigenen Standpunkt nicht in Frage zu stellen. Ich pflege dann, wenn die Diskussion um den „schiefen Sattel" aus dem Ruder zu laufen droht, die entsprechenden Personen in mein Sattellager mit etwa 800 Sätteln unterschiedlichster Hersteller einzuladen und verspreche ihnen jeden symmetrischen Sattel, den sie finden, als Geschenk mitzugeben.
Es ist noch niemals jemand erschienen.
Hakan Dinekli